Einigung in der Tarifrunde MuE: „Besser wie nix?“ – Aber ist das wirklich der richtige Maßstab?
Der jüngste Tarifabschluss der IG Metall für die ME-Branche polarisiert. Von offener Ablehnung – insbesondere bei kampfstarken Belegschaften oder in (trotz Krise) ertragsstarken Betrieben – bis hin zu „Besser wie nix!“ oder „Für die Umstände ganz OK!“, ist alles zu hören. Und es gibt auch einige, die sind wirklich zufrieden. Um diese Polarisierung und die weit auseinanderliegenden Meinungen zu verstehen, sollten wir uns zunächst die Fakten ansehen. Was hat die IG Metall in der ME-Tarifrunde 2022 erreicht? Im Juni 2023 steigen die Entgelte in den tarifgebundene Betrieben der Metall- und Elektroindustrie um 5,2%. Im Mai 2024 um weitere 3,3%. Anfang 2023 sowie Anfang 2024 (jeweils bis spätestens 1. März) erhalten die Beschäftigten eine im Tarifergebnis „Inflationsausgleichsprämie“ genannte steuer- und sozialabgabenfreie Sonderzahlung von 1.500 Euro. Die Laufzeit des neuen Entgelttarifvertrags geht bis zum 30. September 2024. Daraus folgt: Zusammen mit der „nachlaufenden“ Friedenspflicht von vier Wochen wird es die nächsten Streiks, in der für die IG Metall mit Abstand wichtigsten Branche, frühestens ab dem 29. Oktober 2024 geben. Ohne sich in tarif-chinesische Details zu verlieren; man kann zusammengefasst sagen, dass der aktuelle Tarifabschluss – wenn es „gut“ läuft und der Anstieg der Preise sich verlangsamt – die Inflation des nächsten und übernächsten Jahres ausgleichen kann. Wenn es „schlecht“ läuft, nicht einmal das.
Tarifrunde in der Krise
Den diesjährigen Preisanstieg von rund 10% tragen wir mittelfristig selbst. Denn auch wenn der Name „Inflationsausgleichsprämie“ dies verspricht; die Preise steigen dauerhaft und werden auf lange Sicht leider nicht durch zwei Sonderzahlungen zu jeweils 1500 Euro netto ausgeglichen. Irgendwann ist das Geld alle und alles immer noch so hoch wie jetzt! Insofern können wir den Ärger der streikbereiten Belegschaften gut verstehen. Wir meinen, in Krisenzeiten ist es Aufgabe einer Gewerkschaft den in vielen Tarifrunden zuvor erkämpften Lebensstandard abzusichern. Nicht nur den Reallohnverlust abzuschwächen. Nicht zuletzt geht es in solch zugespitzten Situationen wie einer Tarifrunde – neben der geforderten Lohnerhöhung – aber auch um etwas nicht weniger Wichtiges. Nämlich unsere eigene Glaubwürdigkeit als Gewerkschaft und der Menschen, die für sie stehen.
Das heißt, wenn man vor den Sommerferien eine Forderung von 8% beschließt und sich darauf verständigt, im September – also kurz vor Aufnahme der Tarifverhandlungen – „noch mal drauf zu schauen, ob das noch realistisch ist“, dann muss man den Realismus und den Mut besitzen, die Forderungen deutlich nach oben zu korrigieren; da in der Zwischenzeit die Preise förmlich explodiert sind. Auch wenn das in letzter Konsequenz heißt, an einem Streik nicht mehr vorbei kommen zu können. Und die eigene Glaubwürdigkeit bewahren, heißt auch: Wenn auf nahezu jeder Warnstreikkundgebung und Funktionärsversammlung versichert wird, dass „der Abschluss nicht weit weg von der Forderung liegen darf“, dies dann zu „liefern“. Oder zumindest nicht davor zurückzuschrecken, den Kampf weiter zuzuspitzen.
Streiken und Wagen
Aber wir wissen auch, nicht alle Belegschaften waren in Gänze kampfbereit. Und es gab auch nicht wenige, die waren irgendwie erleichtert, dass es doch nicht zur Urabstimmung und dem dann folgenden Erzwingungsstreik – voraussichtlich in Baden-Württemberg – gekommen ist. Warum war das so? War es wirklich nur die Sorge darum, dass der „eigene“ Betrieb die geforderten 8% Entgelterhöhung nicht zahlen kann? Oder verbergen sich hinter dieser Zurückhaltung tieferliegende Probleme innerhalb unserer Gewerkschaft? Ein Problem ist sicher die fehlende Streikerfahrung vieler. Vor Dingen, die man noch nie gemacht hat, haben viele Angst. Insbesondere dann, wenn es dabei um sehr viel geht, der Gegner stark ist und man nicht weiß, ob man Erfolg hat. Das verstehen wir. Aber durch Warten und immer wieder im entscheidenden Moment zurückzuziehen, wird es nicht besser! Schlimmstenfalls reduziert sich die IG Metall damit langfristig selbst zum ausrechenbaren und damit fast zahnlosen Warnstreik-Tiger. Wir sollten uns trauen, diesen Teufelskreis aus Mutlosigkeit und Erfahrungsverlust möglichst bald zu durchbrechen.
Das Streiken an sich sehen zu viele innerhalb der IG Metall als ein unangenehmes und riskantes Übel an, das es möglichst zu vermeiden gelte. Doch nur in solchen Kämpfen formiert sich unsere Klasse und kann ihre Handlungsmacht voll entfalten. Wer dem entscheidenden Kampf mit dem Klassengegner immer wieder im letzten Moment aus dem Weg geht, der schwächt sich selbst. Was für eine einzelne Auseinandersetzung nur einen kleinen Unterschied macht, führt langfristig zu massiven Problemen. Denn eine Klasse, die das Kämpfen verlernt hat, steht den angreifenden Kapitalisten unbewaffnet gegenüber. Weder in den Abwehrkämpfen rund um die Transformation, noch in den nach vorne gerichteten Kämpfen, für eine solidarische Gesellschaft, sind dann noch Erfolge möglich. Die Tarifrunde 2022 hätte das Potenzial gehabt, hier vorzubauen. Diese Chance wurde leider verspielt.
Der weiße Elefant
Einer der möglichen Gründe dafür: Bei den Tarifverhandlungen stand ein sprichwörtlicher „weißer Elefant“ im Raum. Also eine Sache, die jeder sieht, aber fast keiner – zumindest nicht öffentlich – anspricht. Dieser „weiße Elefant“ hat einen Namen. Er heißt „Ukraine Krieg“! Wir meinen damit, dass die explodierende Inflationsrate, die den wirtschaftlichen Hintergrund der Tarifverhandlungen bildete eine Folge des mit militärischen, aber auch mit wirtschaftlichen Mitteln geführten Krieges Russlands und des „Westens“ um die Vorherrschaft in Osteuropa ist. Innerhalb der IG Metall gibt es dazu keine offen oder breit geführte Diskussion, ob es sich bei diesem Krieg wirklich um einen „Kampf Gut gegen Böse“ handelt? Oder es „nur“ der blutige Kampf des sich in der Defensive wähnenden kleptokratischen russischen Kapitalismus gegen den ganz Europa beherrschen und ausbeuten wollenden Kapitalismus westlicher Prägung ist? Sollte letzteres der Fall sein – wofür einiges spricht – dann wäre es falsch, die Lasten dieses Krieges mit den „eigenen“ Kapitalisten zu teilen. Die richtige Beantwortung dieser Frage hat unmittelbaren Einfluss auf die Strategie der Tarifrunde und die Bewertung des Ergebnisses.
Wir wissen, dass es sicher nicht wenige Kolleg:innen gibt, denen das „zu viel Politik“ ist. Die die Zusammenhänge nicht verstehen oder einfach nur „Kohle sehen wollen“. Aber um die richtige Forderung aufzustellen und eine erfolgversprechende Strategie zu haben, ist immer auch politischer Verstand nötig. Nicht nur bei einigen Spitzenfunktionär:innen – die dann alles schön für uns regeln sollen oder wollen – sondern auch bei den gewerkschaftlichen Vertrauensleuten und besser noch in möglichst großen Teilen die Gewerkschaftsmitglieder. Wer meint, ohne „Politik“ auszukommen, den wird diese Bequemlichkeit oder Ignoranz auf kurz oder lang einholen. Nicht nur in der Tarifrunde, sondern vermutlich auch in den kommenden Jahren, wenn uns die Bundesregierung die Rechnung für die Gegenfinanzierung ihrer Corona-„Rettungspakete“, das 100 Mrd. Aufrüstungspaket für die Bundeswehr oder von Scholz´ „Doppel-Wumms“ präsentieren wird. Und selbst die zwei Mal 1.500 Euro Sonderzahlung netto könnten einen faden politischen Beigeschmack bekommen. Denn die entsprechend fehlenden Krankenversicherungsbeiträge oder Steuereinnahmen werden höchstwahrscheinlich unseren Kolleg:innen von Ver.di bei ihrer demnächst beginnenden Tarifrunde im Öffentlichen Dienst unter die Nase gerieben werden. Und teilweise als Begründung dafür herhalten müssen, warum ihre Forderung nach einer Lohnerhöhung von 10,5% nicht „finanzierbar“ sei. Zum Schluss noch zu einem Detail des Tarifergebnisses, welches zunächst nebensächlich erscheint. Und – zugegebenermaßen – für Außenstehende schwer verständlich ist.
Lieber erkämpft als verhandelt…
Im Februar erhalten die Beschäftigten der tarifgebundenen Metall- und Elektro-Betriebe ein sogenanntes Transformationsgeld. Das betrug in diesem Jahr rund 18% eines Brutto-Verdienstes und sollte 2023 auf rund 27% steigen. Dieser Anstieg von 9%-Punkten wird nun gestrichen. Dafür wird jedoch eine andere im Juli fällige tarifliche Sonderzahlung mit dem schönen Namen „Tariflicher Zusatzbetrag“ (ZUB oder T-Zug B) um 200 Euro auf 600 Euro erhöht. Vermutlich sind die 9%-Punkte, die beim Transformationsgeld gestrichen werden, mehr als die 200 Euro, die es später im Jahr beim „Tariflichen Zusatzbetrag“ obendrauf gibt? Aber „geschenkt“. Etwas anders wiegt schwerer. Nämlich, dass der „Tarifliche Zusatzbetrag“ durch einseitige Erklärung des jeweiligen Kapitalisten erst verschoben werden kann und später gestrichen wird, wenn das Unternehmen keine eine Mindestrendite von 2,3% des Umsatzes erzielt. Vermutlich verfolgt der Kapitalistenverband durch eine solche „ertragsabhängige Differenzierung“ bei der Weitergabe von tariflichen Zahlungen eine langfristige Strategie? Es scheint so, als möchte man erreichen, dass es in Zukunft Tariferhöhungen nur noch dann gibt, wenn das Unternehmen einen „Mindestgewinn“ macht; über dessen Höhe man dann Tarifrunde für Tarifrunde neben der eigentlichen Forderung auch noch verhandeln muss.
Wir meinen jedoch: Tariferhöhungen sind keine Gewinnbeteiligung, sondern sollen zumindest unseren Lebensstandard sichern beziehungsweise erhöhen. Aufgabe von Tarifpolitik ist es, verlässliche Einkommen zu sichern und eben nicht das unternehmerische Risiko auch mal Verluste machen zu können, auf die Belegschaft zu übertragen! Wir hoffen mit unserer Bewertung des Tarifverhandlungsergebnisses und der damit verbundenen solidarischen Kritik unsere IG Metall besser zu machen. Die meisten von uns sind aktive Gewerkschafter:innen und engagieren sich in ihren Betrieb oder darüber hinaus.
In einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus wollen wir jedoch nicht mehr in der heute bekannten Art und Weise mit Kapitalisten verhandeln müssen. Denn es ist unsere Klasse – die Arbeiter:innenklasse – die den Reichtum dieser Gesellschaft erarbeitet. Also soll sie auch alleine – ohne Kapitalisten – darüber verfügen können.