[Übersetzung] „Freiheit, Gleichheit, Sicherheit“ – Über den Aufstand in den französischen Vorstädten
Der Aufstand in den französischen Vorstädten beschäftigt Frankreich aber auch uns. Daher hier eine Übersetzung des Artikels „Liberty, Equality, Security – On the uprising in the French Suburbs“ von W. Muncer aus Frankreich, veröffentlicht bei den linken Medienprojekten redstream und Redspark. Dort findet ihr den Artikel auch mit Quellen.
Am Dienstagmorgen, dem 27. Juni, wachten die Menschen in Frankreich auf und mussten feststellen, dass ein Albtraum wahr geworden war. In Nanterre, einem Vorort von Paris, hatte die Polizei erneut einen 17-jährigen Teenager namens Nahel Merzouk getötet. Der Vorfall ereignete sich, nachdem Nahel und seine beiden Mitfahrer in der Nähe des Bahnhofs von Nanterre-Prefecture durch die Polizei angehalten worden waren. Einer der Beamten hielt Nahel eine Pistole an den Kopf und bedrohte ihn mit den Worten „Beeil dich! Sonst bekommst du eine Kugel in den Kopf!“ – und schlug ihn. Verängstigt nahm Nahel den Fuß von der Bremse seines Autos mit Automatikgetriebe, das sich wieder in Bewegung setzte. In diesem Moment schoss der Beamte und tötete ihn.
Zunächst versuchte die Polizei, die Schuld von sich zu schieben, indem sie sich auf Notwehr berief, doch ein Video des Vorfalls machte schnell die Runde und enthüllte die Wahrheit. Die Polizei hatte nicht nur einen jungen Mann getötet, sondern auch versucht, dem Opfer die Schuld an seinem eigenen Tod zu geben. In einem proletarischen Vorort, in dem die Bewohner:innen seit Jahrzehnten Opfer von Polizeischikanen und -gewalt sind, war dieses jüngste Polizeiverbrechen der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es dauerte nicht lange, bis die Wut der Bevölkerung explodierte. Ab Dienstagabend kam es in mehreren französischen Städten, darunter Lyon, Bordeaux, Toulouse und Lille, zu Aufständen. Die Menschen drückten ihre Wut aus, indem sie Brände legten, Autos und öffentliche Gebäude anzündeten und mit Polizei kämpften.
Im Gegensatz zur herrschenden Medienberichterstattung, die die Rebell:innen als nihilistisch bezeichnete, waren die Ziele ihrer Angriffe sehr politisch. Als etwas eine Gruppe Jugendlicher ein Finanzamt in der Nähe von Nancy belagerten, protestierten sie damit gegen das klassenbasierte Steuersystem. Die Zerstörungen in wohlhabenden Vierteln von Paris, wie der Rue de Rivoli und dem 12. Arrondissement, trafen den Kern der bourgeoisen französischen Gesellschaft. Die Brandstiftung an der Baustelle der Olympischen Spiele spiegelte den militanten Slogan der Rentenreformbewegung wider: „Keine Rücknahme [des Rentenreformgesetzes], keine Olympiade!“ Als in Lyon faschistische Gruppen junge Migrant:innen überfielen, wehrten sie sich mit einer starken antifaschistischen Reaktion.
Systemischer Rassismus
Abgesehen von der schieren Sinnlosigkeit und Brutalität des von der Polizei begangenen Verbrechens stellt sich die Frage, was eine so starke Reaktion auf den Mord an dem jungen Nahel ausgelöst hat. Um die Situation und ihre politischen Implikationen zu verstehen, ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass das Opfer nicht irgendein junger Mann war: Er war ein junger, nicht -weißer Mann aus der Arbeiter:innenklasse. Einem Bericht des französischen Ombudsmanns (eine EU Instititution) aus dem Jahr 2017 zufolge sind schwarze und arabische Menschen 20 Mal häufiger von Polizeigewalt betroffen als Weiße.
Zwei junge Demonstranten, die wir im Paganini-Viertel im 20. Arrondissement von Paris trafen, erzählten uns von ihren alltäglichen Erfahrungen als Araber im Angesicht der Polizei: „Sie üben ständig Druck aus, sie gehen ständig vorbei, es gibt ständig unnötige Kontrollen, Beleidigungen, Bemerkungen, die ganze Zeit. Dauernd. Und es gibt keine Pausen, kein Aufatmen. Sie spucken uns ins Gesicht, sie beleidigen uns, sie verhängen ungerechtfertigte Geldstrafen. Sie legen die Regeln fest, und wir sind ihre Diener. Sie wollen, dass wir tun, was sie wollen.“
Aber es geht nicht nur um den Rassismus in den Reihen der Polizei, der von Institutionen wie der UNO und der EU verurteilt wurde. Das Gleiche gilt für bei der Arbeit: Laut einer anderen Studie derselben Institution ist „im französischen Mutterland die tatsächliche oder vermeintliche [Einwanderer-]Herkunft nach dem Geschlecht das zweithäufigste Kriterium für Diskriminierung“ und „11 % der Personen geben an, in den letzten fünf Jahren eine oder mehrere Diskriminierungen aufgrund der [Einwanderer-]Herkunft oder der Hautfarbe erlebt zu haben.“ Der Bericht erwähnt auch, dass „Männer, die Nachkommen von Einwanderern aus Nord- oder Subsahara-Afrika sind […], ein durchschnittliches Monatsgehalt haben, das 7 % niedriger ist als das von Männern ohne Migrationshintergrund.“ Noch schlimmer sieht es beim Wohnraum aus: „Menschen mit einem arabisch oder afrikanisch klingenden Namen haben eine um 27 % bzw. 31 % geringere Wahrscheinlichkeit, einen ersten Termin mit dem Vermieter zu bekommen“, heißt es in der gleichen Studie. Hier sehen wir, eine systemische Verflechtung von wirtschaftlicher Ausbeutung und Rassismus.
Zurück zur Polizeigewalt gegen People of Color : In den Vorstädten, wo Tausende von armen Einwanderern und Nachkommen von Einwanderern in baufälligen Wohnprojekten zusammengepfercht sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich gegen die Ungerechtigkeiten, mit denen sie konfrontiert sind, wehren, wesentlich höher. Die Besessenheit der Behörden mit rassistischen, klassenbasierten Kontrollen hat zu zahlreichen Todesfällen unter den Bewohner:innen dieser Viertel geführt, die antirassistische Aktivist:innen nun als wortwörtliche „Hinrichtungen“ bezeichnen.
Das ist nichts neues. Erinnern wir uns an die Aufstände in den französischen Vorstädten im Jahr 2005 die durch den Tod zweier Jugendlicher ausgelöst wurden, die in einem Umspannwerk durch einen Stromschlag getötet wurden, als sie versuchten, den Schikanen der Polizei zu entkommen. Elf Jahre später, im Jahr 2016, wurde Adama Traoré, ein schwarzer Mann, auf ähnliche Weise getötet wie George Floyd in den Vereinigten Staaten im Jahr 2020: Erwürgt durch einen Polizeibeamten. Im darauffolgenden Jahr, 2017, kam es zur „Théo-Affäre“, bei der ein Polizeibeamter bei der Verhaftung eines 22-jährigen Mannes einen Schlagstock in den Anus des Opfers rammte, ein weiterer Skandal, der in vielen französischen Arbeiter:innenvierteln Empörung auslöste. Erst kürzlich wurde der 19-jährige Alhoussein in Angoulême von der Polizei getötet, nur zwei Wochen vor dem Mord in Nanterre. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, und die hier angeführten Beispiele beziehen sich nur auf die bekanntesten Fälle von Polizeigewalt und sind nur die Spitze eines Eisbergs, der auch weniger subtile Formen der Gewalt umfasst, denen People of Color in Frankreich Tag für Tag ausgesetzt sind.
Die Brutalität der Polizei wird in der französischen Gesellschaft jedoch nicht einmal als eine Form der Gewalt angesehen, vor allem aufgrund des Mediendiskurses, der dazu tendiert, die polizeiliche Repression zu legitimieren und den Widerstand der lokalen Jugendlichen zu verteufeln. Die beiden Demonstranten, die wir im Paganini-Viertel trafen, sagen hierzu:
„Das Problem in Frankreich ist, dass Gewalt immer dann betont wird, wenn wir, die Schwarzen und Araber, beteiligt sind. Denn ein Jugendlicher, der einen Feuerwerkskörper auf die Polizei wirft, wird als schockierender angesehen als ein Polizist, der einem Jugendlichen einen Schlagstock in den Anus rammt, wie es vor einigen Jahren bei dem jungen Théo der Fall war. Sind sind es die extreme Gewalt ausüben, wenn sie junge Menschen erwürgen, die gerade zur Arbeit gehen, weil der Polizist es nicht verkraftet hat, wenn er beleidigt wird. Das ist gewalttätig. Aber junge Leute, die rebellieren, weil sie ständig umgebracht, belästigt oder angegriffen werden, das nenne ich Selbstverteidigung.“
Eine Geschichte der „Verbannten“
Um das ganze Ausmaß der tief sitzenden Wut der armen und nicht-weißen Bevölkerung Frankreichs zu begreifen, muss man neben einer Analyse der Mechanismen des staatlichen Rassismus auch die Kolonialgeschichte des Landes begreifen. Shahin, ein antirassistischer Aktivist und Journalist aus der Region Paris, der mit uns sprach, formuliert den Zusammenhang dieser Vergangenheit mit den aktuellen Ereignissen so:
„Die Franzosen haben Afrika kolonisiert, sie haben Krieg in Libyen geführt, sie haben Gaddafi vor etwas mehr als zehn Jahren getötet, sie haben viele Länder kolonisiert, sie waren im Nahen Osten, sie haben grausame Dinge getan […] und heute beschweren sie sich über junge Leute, die Mülltonnen und Autos anzünden, um Gerechtigkeit zu fordern.“
Frankreich hat eine lange Geschichte des Kolonialismus. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eroberte es große Kolonien, insbesondere in Westafrika: Senegal, Niger, Benin, die Elfenbeinküste und andere. Für die indigene Bevölkerung wurde bald eine besondere Gesetzgebung („Code de l’indigénat“) eingeführt, die sie einem weitaus restriktiveren Rechtssystem unterwarf als dem der Franzosen. Infolgedessen wurden die Kolonien, die reich an natürlichen Ressourcen (Palmöl, Färberholz, Kautschuk usw.) waren, über sieben Jahrzehnte lang von französischen Unternehmen ausgeplündert.
Während dieser ganzen Zeit untergruben Aufstände der unterdrückten Völker das Kolonialregime, aber erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurden diese Kämpfe strukturierter und errangen dauerhafte Siege, so dass die Perspektive der Unabhängigkeit in Angriff genommen werden konnte. Obwohl die meisten französischen Kolonien zwischen 1945 und 1977 ihre politische Unabhängigkeit erlangten, behielten Frankreich und seine multinationalen Unternehmen häufig die Kontrolle über die wichtigsten Wirtschaftssektoren.
Nicht alle Kolonien haben ihre Unabhängigkeit erlangt. Die Polizei schießt in diesen „Übersee-Gebieten“ immer noch mit scharfer Munition auf Demonstranten, wenn es zu Aufständen kommt. Etwa in Neukaledonien im Jahr 2020 und kürzlich auf Mayotte und in Französisch-Guayana, wo ein Mann während einer Demonstration gegen Polizeigewalt getötet wurde.
Nach so vielen Jahren politischer, kultureller und wirtschaftlicher Ausbeutung durch Frankreich verursachten die französischen Imperialisten zerstörerische Bürgerkriege, um die Versuche der neu gegründeten Staaten zu stören, die Kontrolle über Teile ihrer eigenen Wirtschaft zu übernehmen. Infolgedessen waren viele Arbeiter:innen aus dem Kongo, Tunesien, Algerien, Senegal und anderen Ländern gezwungen, ihre Länder zu verlassen, da sie von französischen Unternehmen zur Arbeit in Sektoren mit niedrigen Löhnen und mangelndem Arbeitsschutz gelockt wurden.
In Frankreich angekommen, waren sie dann den schlimmsten Arbeitsbedingungen ausgesetzt. Das Beispiel der „Chibanis“ (arabisch für „Weihaarige“), Eisenbahner, die erst vor kurzem ihren Prozess gegen die staatliche Eisenbahngesellschaft (SNCF) gewonnen haben, die sie jahrzehntelang diskriminiert hatte, indem sie ihnen weniger als die gesetzlichen Löhne zahlte, zeigt, dass die staatlichen Unternehmen genauso schlecht sind wie die Privatwirtschaft.
Als der Kapitalismus ab den 1970er Jahren erneut in eine Krise geriet, waren die ersten, die von ihr betroffen waren, die prekärsten Teile der Gesellschaft, nämlich die Arbeitsmigrant:innen. Die Massenarbeitslosigkeit, die im folgenden Jahrzehnt einsetzte, traf Generationen von Einwanderern, die versuchten, in einem Land zu überleben, das sie aufgrund ihrer Klasse, ihrer Hautfarbe und Religionszugehörigkeit als Bürger zweiter Klasse behandelte. Durch die Vertreibung aus den Stadtzentren, in denen die Mieten immer weiter stiegen, wurden viele arme People of Color in die vom Staat aufgegebenen Vorstädte gedrängt. Im Französischen bezeichnet man die Arbeiter:innenviertel am Rande der Großstädte als „Banlieue“. Dieser Begriff hat große Bedeutung, denn er bedeutet „Ort, an den man verbannt ist“ oder „Ort der Banlieu“.
Die Mission des französischen Staates gegenüber diesen „verbannten“ Bevölkerungsgruppen besteht seit jeher darin, sie in den Vorstädten einzuschließen oder einzusperren und zu verhindern, dass sie gegen ihre unwürdigen Bedingungen rebellieren. Die polizeiliche Kontrolle wurde Jahr für Jahr verschärft, bis hin zur Unterdrückung der Bewegungs- und Meinungsfreiheit.
In der langen Reihe aufeinanderfolgender Polizeiprogramme, die von rechten und linken Regierungen umgesetzt wurden, ist die jüngste Entwicklung der Militarisierung und Überwachung sogenannter „sensibler“ Viertel die „Reconquête Républicaine“ („Republikanische Wiedereroberung“, 2018 eingeführt), die den Einsatz mehrerer Tausend zusätzlicher Polizeibeamter in ganz Frankreich beinhaltet, um die Verbannten in ihren Vierteln weiter einzudämmen und zu unterdrücken.
Eine Medienkampagne zur Verteidigung der herrschenden Ordnung
Am Tag nach dem Mord wurde eine massive Medienkampagne gestartet, die darauf abzielte, die Polizeibeamten, die den Mord begangen hatten, freizusprechen und das Opfer zu beschuldigen, seinen eigenen Tod herbeigeführt zu haben. Auf BFM-TV (das dem Milliardär und mehrfach vorbestraften Steuerhinterzieher Patrick Dahi gehört) fragte sich ein Journalist, ob man nicht vor allem „an die Ehrlichkeit dieser Polizeibeamten, die sich bedroht fühlten, denken sollte“. Ohne es jemals offen auszusprechen, machen die öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehsender deutlich, dass es für einen bewaffneten Polizisten legitim ist, einen jungen Menschen zu töten, unabhängig davon, ob eine „echte“ Bedrohung vorliegt.
Wissam Xelka, einer der führenden Aktivisten des dekolonialen und antirassistischen Kollektivs „Paroles d’Honneur“, weist darauf hin, dass es angesichts direkter und indirekter Rechtfertigungen für polizeiliche Tötungen nicht darum geht, so zu tun, als sei das Opfer völlig unschuldig gewesen. Xelka spricht von einer strategischen Verschiebung der Linken hin zum „‘Unschuldsdenken‘, d.h. dem Versuch, das Opfer als rein und unschuldig darzustellen. Aber wen kümmert es, ob es unschuldig ist oder nicht? Selbst der größte Dreckskerl muss nicht von der Polizei getötet werden, jedenfalls nicht in einem Rechtsstaat. In einem Rechtsstaat hat auch ein solcher Drecksack das Recht auf einen Prozess und sollte nicht getötet werden. Sie sehen, dass selbst bei einem 17-jährigen Opfer, das nicht vorbestraft ist, [die Medien und die Behörden] immer noch sagen werden: ‚Aber er wurde doch schon mal verhaftet! Wir verlieren uns also in dieser Unschuldsdebatte.“
Gleichzeitig hat im Fernsehen und in den sozialen Medien die Rhetorik der extremen Rechten über die „ensauvagement“ („Barbarisierung“) der französischen Gesellschaft – eine Begrifflichkeit, die auf einer Linie mit der faschistischen Theorie des „großen Austauschs“ liegt (also der Ersetzung der Weißen durch „Araber“) – freie Bahn, während die Linke in dieser Frage gespalten ist und darum kämpft, eine klare Verteidigung der Jugendlichen auf der Straße sowie eine klare Opposition gegen Polizeigewalt zu formulieren. Eine Grenze wurde überschritten, als der ehemalige faschistische Präsidentschaftskandidat Eric Zemmour vor der Gefahr eines bevorstehenden „ethnischen“ und „rassischen“ Krieges warnte und damit eine Debatte anfachte, die den faschistischen Elementen der Polizei folgt, die behaupten, sie würden von den Kräften der „Islamo-Linken“ angegriffen, einer neueren Variante der Verschwörungstheorie des „Jüdischen Bolschewismus“.
Auch die Entourage von Eric Zemmour hat nicht lange gewartet, um Unterstützung für den Polizeiapparat zu organisieren. Am Donnerstag startete sein ehemaliger Sprecher Jean Messiha eine GoFundMe-Kampagne zur Unterstützung der Familie des Polizisten Florian M., der Nahel ermordet hatte. Am Montagmorgen hatte der Fonds bereits über 1,5 Millionen Euro erreicht, die Spendenkampagne für Nahels Angehörige hatte dagegen nur 440.000 Euro eingebracht.
Interessant ist der Vergeleich der GoFundMe-Kampagne von J. Messiha zur Unterstützung des wegen vorsätzlicher Tötung angeklagten Polizeibeamten mit der Spendeninitiative 2019 für den ehemaligen Boxchampion Christophe Dettinger, der nach seiner heldenhaften Verteidigung mit bloßen Händen gegen Polizisten, die Mitglieder der Gelbwesten-Bewegung angriffen, verhaftet wurde. Während die Kampagne zur Unterstützung Dettingers auf Druck der Regierung eingestellt wurde, ist der Spendenaufruf zugunsten der Familie von Nahels Mörder nicht eingestellt worden.
Über Riots hinaus
Es wurden viele Vergleiche zwischen den heutigen Ereignissen und den Riots von 2005 gezogen. Zwar ähneln sich die beiden Ereignisse in Bezug auf die Art der Revolte – Brandstiftung, Zusammenstöße zwischen Polizei und Jugendlichen -, nicht aber beim breiteren gesellschaftlichen Kontext. Während 2005 die großen Kämpfe gegen die Regierung noch größtenteils im mehr oder weniger institutionalisierten und befriedeten Rahmen der Gewerkschaftsbewegung stattfanden, zu einer Zeit, als der Kapitalismus und die politischen Institutionen Frankreichs noch nicht völlig bankrott waren, konnte die Regierung den Bewegungen mehr Zugeständnisse machen. Die aktuelle Situation ist jedoch die eines Pulverfasses aus Klassenkämpfen: die kleinste neoliberale Sparmaßnahme, das kleinste autoritäre Vorgehen der Polizei führt zum Ausbruch massiver Revolten, die sich der Kontrolle der politischen Parteien und Gewerkschaften entziehen.
Shahin, unser Korrespondent vor Ort, fasste die Situation wie folgt zusammen: „Die heutigen Proteste sind viel größer und umfassender. Im Jahr 2005 dauerte der Aufstand fast einen Monat. Aber heute, in nur drei Tagen, ist ganz Frankreich traumatisiert. Denn in weniger als drei Tagen haben diese jungen Menschen das Land zum Stillstand gebracht. […] Was die Intensität der Revolte angeht, so ist sie viel stärker als 2005.“
Der tief in den Institutionen der französischen Gesellschaft verwurzelte Rassismus hat viele Ähnlichkeiten mit dem, was wir in anderen europäischen imperialistischen Ländern wie Großbritannien und Deutschland sehen. Und obwohl sich die Art der Ausschreitungen, die wir in Frankreich wiederholt gesehen haben, von den Revolten migrantisierter Menschen in anderen europäischen Ländern unterscheidet, hat sich die Wut sehr schnell auf umliegende Länder wie Belgien und die Schweiz ausgebreitet.
Ein großer Widerspruch, den fortschrittliche und antirassistische Kräfte in der nächsten Zeit lösen müssen, ist jedoch die Frage, wie sie die Wut und den militanten Elan in eine große politische Bewegung umwandeln können, die in der Lage ist, Siege zu erringen und neue Rechte zu erkämpfen, es sei denn, dass sich dasselbe Szenario in ein paar Jahren wiederholt. Wissam Xelka sagt dazu
„Wir antirassistischen Aktivisten haben eine Verantwortung. Wir sind keine Krawalltouristen. Denn diese Unruhen sind auch das Zeichen einer politischen Wüste. [Die Aufstände] sind auf einen Mangel an Selbstorganisation in den Vierteln zurückzuführen.“ Mit anderen Worten: Wir müssen das Fehlen eines klaren politischen Projekts überwinden, das der „Banlieue“-Rapper Medine in seinem Lied „Grand Médine“ aus dem Jahr 2020 beschrieben hat: „Ihr [die Banlieusards] habt keine großen Kriege, keine großen Ziele, für die ihr euch aufopfern könnt.“
Aber eines ist sicher: Die Vorstadtgemeinden lassen sich nicht täuschen. Sie trauen Politiker:innen nicht, die aus reinem Opportunismus Identitätspolitik betreiben und keine wirklichen Lösungen für rassistische Unterdrückung und kapitalistische Ausbeutung parat haben. Eine von Shahin geteilte Anekdote bringt diese Haltung der Vorstadtbevölkerung sehr treffend auf den Punkt:
„Als der linke Abgeordnete Carlos Martens Bilongo (La France Insoumise) in das Pablo-Picasso-Viertel in Nanterre kam, um mit den Menschen zu sprechen und zu sagen, dass er zu ihnen gehört, wurde er von den Bewohnern verjagt. Sie sagten ihm, er solle gehen. Denn die Politiker wollen, dass wir sie wählen, aber wenn sie einmal gewählt sind, […] machen sie mit ihrem Leben weiter, und für uns hat es nie einen Unterschied gemacht.“
Ein Beweis für die Existenz einer echten politischen Intuition im Herzen der französischen Vorstädte.
Und die Linke in all dem?
Obwohl die reformistische und außerparlamentarische Linke nach der Ermordung Nahels ihre Wut deutlich zum Ausdruck brachte, was sich in einigen der Slogans wie „ein Polizist, eine Kugel: soziale Gerechtigkeit“ und „Rache für Nahel“ (die von Vertretern des radikaleren Flügels der Linken während der jüngsten Demos gerufen wurden) widerspiegelte, verfolgte das Gespenst der Aufstände von 2005 und einer von den Rebellierenden in den Vorstädten abgeschnittenen Linken die progressiven Kräfte mehr denn je.
Zunächst ein Wort zu den Reaktionen innerhalb des sozialdemokratischen Lagers. Die Kommunistische Partei Frankreichs, die sich seit den 1930er Jahren auf einem revisionistischen Kurs befindet, rief zu „friedlichen“ Demonstrationen auf und verurteilte damit indirekt die Bewegung, da sie sich als ein notwendigerweise gewaltsamer Protest angesichts heftigster staatlicher Repressionen entwickelte. Am Freitag forderte Jean-Luc Mélenchon, Vorsitzender der linkspopulistischen Partei La France Insoumise, die rebellierenden Jugendlichen auf, in ihrem Wutausbruch die Schulen zu verschonen. Damit bewies der Führer von La France Insoumise, dass er überhaupt nicht versteht, was im Lande für die Mehrheit der Menschen vor sich geht; er scheint nicht in der Lage zu sein zu begreifen, dass die so genannte „republikanische Schule“ (das französische Ideal eines leistungsorientierten nationalen Bildungssystems) ein Nährboden für die soziale Reproduktion der herrschenden Zustände ist, wie der verstorbene Soziologe Pierre Bourdieu bereits 1964 in seinem Buch Les héritiers („Die Erben“) nachgewiesen hatte. In den Schulen werden die Jugendlichen aus den Vorstädten auf eine Zukunft vorbereitet, die sie nie genießen werden: soziale Mobilität nach oben, Zugang zu einem festen Arbeitsplatz, sogar Eigentum. Und selbst bei dieser so genannten „Vorbereitung“, die für diese Kinder zu keinerlei Erfolg führen wird, versagt das Schulsystem kläglich… Wenn Herr Mélenchon auch nur die geringste Ahnung davon hätte, was in den Schulen der Vorstädte vor sich geht (in Bezug auf Rassismus, Klassismus usw.), würde er sicherlich seine Stimme senken und aufhören, die „Sozialrepublik“ (französische Bezeichnung für den Sozialstaat) zu preisen, die für alle, die nicht zu der kleinen Gruppe weißer, männlicher, hochqualifizierter Fabrikarbeiter und Angestellter gehören, niemals „sozial“ gewesen ist. Aber offensichtlich scheint Mélenchon, wie andere auch, ein Gefangener des Mythos der „Trente Glorieuses“ (der „Dreißig glorreichen Jahre“, in Anlehnung an die „Drei glorreichen“ Tage der französischen Revolution von 1830) zu sein – der Zeit des vermeintlichen Wohlstands für die französische Arbeiter:innenklasse zwischen 1945 und 1975 -, der von Historiker:innen und Soziolog:innen längst widerlegt worden ist.
Aber das Problem der Linken in der gegenwärtigen Periode ist leider nicht auf ihren rechten Flügel (d.h. die Sozialdemokraten) beschränkt. Angesichts der aktuellen Ereignisse ist die so genannte „äußerste Linke“ – Klimaaktivist:innen, Feminist:innen, Anarchist:innen, Trotzkist:innen, Marxist:innen-Leninist:innen, Maoist:innen usw. – ebenso in ihren üblichen Interpretationen und Reaktionen stecken geblieben.
Das Hauptanliegen dieses linksextremen Nebels, das sich jetzt formuliert hat, lässt sich am besten anhand eines markanten Beispiels aus aus den letzten Tagen erklären: Der landesweite Aufruf vom Freitag zu einer Kundgebung auf den zentralen Plätzen verschiedener Städte (oft in der Nähe von Polizeistationen), weit entfernt vom Zentrum der laufenden Kämpfe in den Banliues. In Diskussionen über diesen offensichtlichen Widerspruch war die Antwort der Aktivist:innen oft dieselbe: „Daran haben wir nicht gedacht!“, gefolgt von dem eher konservativen „Wir können dort nichts tun, unsere Aufgabe ist es, vom Stadtzentrum aus zu unterstützen“.
Und auch wenn es stimmt, dass das Auftreten von Aktivist:innen, die nicht an das vorstädtische Umfeld gewöhnt sind, in den Banlieus „künstlich“, ja sogar unbeholfen wirken kann, wäre diese Geste historisch und symbolisch gewesen. Darüber hinaus ist die Tatsache, dass die Vorstädte für die meisten linksradikalen Organisationen unbekanntes Land sind, an sich schon ein Zeichen dafür, dass mit den Bewohner:innen dieser Stadtteile nicht genug gearbeitet wurde. Die radikale Linke kann noch so viel über die „Arbeiter:innenklasse“ reden und versuchen, unsere Slogans so inklusiv wie möglich zu gestalten: Solange wir keinen Schritt auf das Proletariat der Vorstädte zugehen, werden unsere Bemühungen vergeblich sein. In diesem Fall wäre es trotz unserer mangelnden Erfahrung vor Ort sowohl für linke Organisationen als auch für die Vorstadtjugend nützlich gewesen, wenn erstere in die Banlieus gereist wären, um zu versuchen, zu untersuchen und zu verstehen, was dort vor sich geht, um mit lokalen Kollektiven (wo immer sie existieren) in Verbindung zu treten und um andere Arten von Interventionen mittel- und langfristig vorzubereiten. Die Teilnehmer:innen der Freitagsdemonstration brauchten jedoch nur kurze Zeit, um sich dessen bewusst zu werden: Man konnte ihre Frustration hören, als einige murrten: „Hier sind wir nutzlos und schreien nur ‚Nieder mit dem Staat, der Polizei und den Bossen’“.
Kurzum, die Reaktion der Linken war eine Mischung aus Überraschung und Zögern, wenn nicht gar Konservatismus. Erinnern wir uns daran, dass es während der Mai 68-Bewegung die Kommunistische Partei Frankreichs war, die als Hürde für revolutionäre Bestrebungen innerhalb der Arbeiter:innenklasse fungierte und den Arbeiter:innen verbot, sich mit den Studierenden zu verbrüdern, die sich mit ihnen verbünden wollten. Heute scheint es, dass die radikale Linke, vielleicht unbewusst, indirekt verhindert, dass sich Studierende mit Jugendlichen in den armen Vorstädten treffen.
Was die heutige Zeit von uns verlangt, ist ein tiefgreifendes Überdenken der Arbeitsweise radikaler und revolutionärer linker Organisationen. In der gegenwärtigen Zeit der Aufstände in den Vorstädten hindert das Verharren in ihrem üblichen geografischen Aktionsradius die Linke daran, wirklich nützlich zu sein und auch das Vertrauen der Vorstadtbevölkerung zurückzugewinnen, die selbst von fortschrittlichen Organisationen längst aufgegeben wurde.